Folgen verspäteter RLV-Zuweisung und Wachstumsmöglichkeiten unterdurchschnittlich abrechnender Praxen

Das Sozialgericht Marburg hat sich in einem Beschluss vom 01.09.2010 mit der Frage der vorläufigen Fortgeltung des Regelleistungsvolumens (RLV) beschäftigt. Das RLV des Vorquartals gelte vorläufig fort, wenn der Zuweisungsbescheid verspätet erlassen werde. Eine spätere Korrektur zu Lasten des Arztes sei nicht möglich. Darüber hinaus bestätigte das Sozialgericht in dieser Entscheidung, dass unterdurchschnittlich abrechnende Praxen in der Aufbauphase sofort auf den Durchschnitt der Fachgruppe wachsen dürften.

In dem Streitfall ging es um die Höhe des RLV einer radiologischen Gemeinschaftspraxis für das Quartal 3/2010. Die Kassenärztlichen Vereinigung (KV) hatte der Gemeinschaftspraxis auf Grundlage der Fallzahlen aus dem Quartal 3/2009 mit Bescheid vom 18.6.10 ein RLV in Höhe von ca. 28.000 Euro zugewiesen. Die im Quartal 1/2008 gegründete Gemeinschaftspraxis war zunächst nur eingeschränkt vertragsärztlich tätig gewesen, so dass sie im Referenzquartal 3/2009 lediglich 373 RLV-relevante Fälle hatte.

In den Folgequartalen entwickelte sich die Praxis jedoch sehr schnell und steigerte ihre Fallzahl kontinuierlich. Im Quartal 1/2010 behandelte die Praxis bereits 2.178 Fälle und steigerte diese Zahl im Quartal 2/2010 noch einmal auf 2.656 Fälle. Neben der Höhe des zugewiesenen RLV rügte die Gemeinschaftspraxis auch den verspäteten Erlass des RLV-Bescheids.

Das Sozialgericht stellte klar, dass die Zuweisung des RLV bereits deshalb rechtswidrig sei, weil der Zuweisungsbescheid entgegen den ausdrücklichen gesetzlichen Vorgaben in § 87b Abs. 5 S. 1 SGB V nicht spätestens vier Wochen vor Quartalsbeginn erlassen worden sei. Die verspätete Zuweisung habe zur Folge, dass das bisherige RLV – vorliegend also dasjenige aus dem Quartal 2/2010 – vorläufig fortgelte. Zudem dürfe ein gegebenenfalls zu hohes (fortgeltendes) RLV nachträglich nicht mehr korrigiert werden.

Darüber ergebe sich die Rechtswidrigkeit aus der Missachtung der Vorgaben des Bundessozialgerichts (BSG) zu den Wachstumsmöglichkeiten einer im Aufbau befindlichen Praxis.

Das Sozialgericht stellte insoweit klar, der Grundsatz der Honorarverteilungsgerechtigkeit in der Aufbauphase von Praxen gebiete, jegliche Fallzahlbegrenzungen bis zum Durchschnitt der Fachgruppe zu unterlassen. Das Gericht verwies auf die Rechtsprechung des BSG zu „Anfängerpraxen“ bzw. „Aufbaupraxen“, wonach es diesen Praxen möglich sein müsse, ihren Umsatz auf den Durchschnittsumsatz zu steigern.

Diese Rechtsprechung müsse auch für die Regeleistungsvolumina gelten. Die Regelung des hier maßgeblichen HVV, welcher die Wachstumsmöglichkeit von „Aufbaupraxen“ faktisch auf ein Jahr begrenze, stehe offensichtlich nicht im Einklang zu der Rechtsprechung des BSG. Die derzeitige Regelung zwinge den Vertragsarzt dazu, zunächst vergütungslos Leistungen zu erbringen, um dann im Folgejahr seine Vergütung steigern zu können. Dies sei rechtswidrig. Daher sei der Gemeinschaftspraxis jedenfalls die durchschnittliche Fallzahl der Fachgruppe zuzubilligen.

(SG Marburg, Beschluss vom 01.09.2010, S 11 KA 604/10 ER)

Praxistipp:
Es wird sich erst zeigen müssen, ob diese Rechtsauffassung des Sozialgerichts Marburg hinsichtlich der Fortgeltung des bisherigen RLV und des Verbotes der nachträglichen Korrektur zu Lasten des Arztes Bestand haben wird. Dennoch empfiehlt es sich zu prüfen, ob die Zuweisung des RLV durch die KV rechtzeitig erfolgt ist.

Im Falle der Verspätung der RLV-Zuweisung, sollte daher Widerspruch gegen den Zuweisungsbescheid eingelegt werden, um zu erreichen, dass ein etwaig höheres RLV aus dem Vorquartal fort gilt. Auch „Aufbaupraxen“ sollten Widerspruch gegen das zugeteilte RLV einlegen, wenn die Fallzahlen in den jeweiligen Vergleichsquartalen unter dem Durchschnitt der Fachgruppe lagen, um jedenfalls einen Zuwachs zum Durchschnitt der Fachgruppe zu erwirken.

Quelle: RAin Anna Mündnich, LL.M. Medizinrecht
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